Berlin.
Rasen, Drängeln, Hupen – und manchmal fliegen auch die Fäuste. Die Hälfte der Bundesbürger empfand im Juni das Klima auf Deutschlands Straßen in einer Umfrage für den Verkehrssicherheitsrat als aggressiver als früher. Am Mittwoch, 10. Juni, haben auch die Unfallforscher der Versicherer eine Studie veröffentlicht – mit wenig schmeichelhaften Ergebnissen: Rund 44 Prozent der Männer und 39 Prozent der Frauen schätzen sich im Straßenverkehr als „mindestens manchmal aggressiv“ ein. Die Folgen wundern nicht. Rund die Hälfte der Interviewten fühlt sich auf der Straße gestresst, dazu unter Druck und nervös. Woran liegt das?
„Den Stein der Weisen gibt es nicht“, bedauert Ute Hammer, Geschäftsführerin des Deutschen Verkehrssicherheitsrats. Aber es fänden sich viele Indizien und Verdachtsmomente für ein raueres Verkehrsklima. So ist es auf Deutschlands Straßen nicht nur gefühlt enger geworden. 61,5 Millionen Kraftfahrzeuge waren im Januar zugelassen – 1,5 Millionen mehr als vor zehn Jahren. Darunter sind nicht allein immer PS-stärkere Pkw, auch der Lieferverkehr hat allein schon durch den Online-Bestellwahn zugenommen. Durch Gesetzesänderungen rollen auch mehr Fernbusse.
Gegenseitige Verkehrserziehung
Im Vergleich zu früher haben auch mehr Bundesbürger einen Führerschein, 94 Prozent der Männer und 85 Prozent der Frauen, berichtet Hammer. Nach der Analyse der Unfallforscher sitzen Frauen selbstbewusster hinterm Steuer und lassen sich weniger bieten. „Drängelt mein Hintermann, trete ich kurz auf die Bremse, um ihn zu ärgern„, sagt fast ein Drittel in der Studie.
Die Quittung für diese Entwicklungen macht Verkehrsforschern Sorgen. Denn nach jahrelangem erfreulichen Rückgang steigt die Zahl der Verkehrstoten in Deutschland seit 2013 wieder an. Im vergangenen Jahr waren es 3.459. Dazu kamen rund 393.400 Verletzte, 67.700 von ihnen schwer.
Jeder gegen Jeden?
Beim Thema Aggressivität nahmen Autofahrer bei der Umfrage der Versicherer kein Blatt vor den Mund. „Manchmal erzwinge ich mir die Vorfahrt„, sagen ein Viertel der Männer und 15 Prozent der Frauen. „Wenn vor mir ein Auto bummelt, muss ich drängeln, um vorbeizukommen“, findet sogar ein gutes Drittel der Männer und ein Viertel der Frauen. Heißt das jeder gegen jeden?
„Wir müssen diese Aggressionen interpretieren. Der Verkehrsraum verteilt sich anders als früher“, sagt Forscher Brockmann dazu. „Autofahrer merken, dass ihnen weniger Platz bleibt als früher. Deshalb versuchen sie, ihr Revier zu verteidigen und auszubauen.“
Verkehrsteilnehmer werden handgreiflich
Auch für Verkehrsforscherin Ute Hammer hat sich die Lage verschärft. „Zehn Prozent unserer Befragten haben angegeben, dass sie im Straßenverkehr Zeuge von handgreiflichen Auseinandersetzungen geworden sind“, sagt sie. In Ostdeutschland und Berlin sei das Empfinden einer gewachsenen Aggressivität mit 60 Prozent noch höher als in Westdeutschland (50 Prozent).
Für die Expertin hat das Phänomen neben mehr Lebensstress und Zeitdruck in einer immer schnelleren Welt auch mit zunehmendem Egoismus zu tun. „Viele Menschen nehmen sich nicht mehr die Zeit, um sich in die Rolle eines anderen Verkehrsteilnehmers hineinzuversetzen“, sagt sie. Dazu komme eine nie da gewesene Ablenkung durch Handys.
Frauen sind oft vernünftiger – und defensiver
Es trifft zuerst die Schwächeren. Allein in Berlin sind in der ersten Hälfte dieses Jahres zehn Radfahrer ums Leben gekommen – so viele wie sonst in zwölf Monaten. 2015 gab es mehr Verkehrstote unter Motorradfahrern und unter Fußgängern. Und es gibt noch einen Befund. „80 Prozent der Verkehrstoten sind männlich“, sagt Ute Hammer. Es sei keine Mär, dass Frauen sich im Straßenverkehr defensiver und oft auch vernünftiger verhielten. Selbst beim Einparken bauten Männer mehr Unfälle als sie.
Als besonders gefährdet gelten generell neben jungen Männern, die ohne ausreichende Erfahrung aufs Gaspedal treten, inzwischen aber auch Senioren. Sei es, weil sie nachlassende Fähigkeiten unterschätzen und sich auch im höheren Alter das Autofahren problemlos zutrauen. Sei es als Radfahrer und Fußgänger mit möglicherweise eingeschränkter Reaktionsfähigkeit. „Ein Zukunftsproblem in einer alternden Gesellschaft könnten auch demente Menschen im Straßenverkehr sein“, sagt Ute Hammer.
Auf Vernunft kann man nicht hoffen
Unfallforscher Brockmann sieht keine helfenden Sofortpakete in dieser ganzen Gemengelage. Weder lasse sich die Infrastruktur schnell anpassen noch sei der Öffentliche Nahverkehr als stressfreiere Variante in allen Regionen attraktiv genug. Auf mehr Vernunft oder Rücksicht auf den Straßen lässt sich nach den jüngsten Umfragen wohl auch kaum setzen. Gewachsen ist allein das Sicherheitsgefühl. Doch das kann für Verkehrsforscher auch an Fahrerassistenzsystemen und Autos mit Wohnzimmeratmosphäre liegen – und weniger am Faktor Mensch.